Beschreibung
1. Einleitung "Es ist Frühjahr 41, und durch unser Land geht ein letzter Taumel von Sieg und Begeisterung. Deutschland ist wie ein Süchtiger, der gleich zusammenbrechen wird, der gleich ein Häuflein Elend sein wird, aber jetzt hat es noch einmal die Kanüle drin, fühlt noch einmal den rasenden Rausch der Macht. [] Deutschland liegt wie eine Kriegswolke quer über dem Kontinent und baut nun das Europa germanischer Herrlichkeit." 1.1.Der Gegenstand Im Mai 1960 wurde gegen eine Reihe ehemaliger Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte in Frankfurt am Main ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Alles an diesem Verfahren ist ungewöhnlich: seine Dauer (zehn Jahre), die Zahl der Beschuldigten (33) und ihre Funktion im Apparat der Justiz, der Tatvorwurf (psychische Beihilfe zum Mord) und das Verfahrensende, verkündet in einem neunzeiligen Beschluss im Jahr 1970. Gegenstand des Verfahrens war ein für die Geschichte der Vernichtungspolitik singuläres Ereignis: Am 23. und 24. April 1941 wurden von Staatssekretär Franz Schlegelberger - er führte zu diesem Zeitpunkt die Geschäfte des Reichsjustizministers - neben dem Reichsgerichtspräsidenten, den Oberreichsanwälten und weiteren hohen Repräsentanten der Justiz auch die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte aller Oberlandesgerichtsbezirke des Deutschen Reichs (einschließlich der annektierten Gebiete) eingeladen. Sollten sie verhindert sein - und dafür gab es eigentlich nur einen guten Grund: im Feld zu stehen -, war der Vertreter zu entsenden. Wichtigster Tagesordnungspunkt der Konferenz: Seit Anfang 1940 wurden systematisch und ohne gesetzliche Grundlage Anstaltspatienten ermordet. Im Zusammenhang mit der Selektion, dem Abtransport und dem Verschwinden von Tausenden von Menschen im Kerngebiet eines von Kriegsauswirkungen noch weitgehend verschonten Deutschen Reichs kam es zu "Störungen" - Angehörige insistierten, Anwohner spekulierten, Kirchenvertreter protestierten. Auch kollidierte die verdeckte und verbotene Tat wiederholt mit Vorgängen im Rechts- und Verwaltungswesen. Abläufe im Justizbetrieb kamen ins Stocken, Behörden stellten Nachforschungen an oder nahmen gar Strafanzeigen entgegen - all das sollte zukünftig vermieden werden. Zwei Vertreter aus der Organisationszentrale der NS-"Euthanasie" trafen sich mit den höchsten Repräsentanten des Rechts und informierten sie plenar über die Mordpraxis und ihre Modalitäten, über interne Abläufe und Verschleierungsmaßnahmen. Der Bericht über die arbeitsteilige, auch mit staatlichen Ressourcen betriebene illegale Tötungspraxis wurde von den Juristen angehört und ohne Verletzung rhetorischer und sozialer Regeln entgegengenommen. Absprachegemäß wurden diesbezügliche Anzeigen und Eingaben nun unbearbeitet an das Ministerium weitergeleitet. Von den höchsten Juristen des Landes hat nicht ein Einziger protestiert oder sich verweigert. Sie, die sehr gut einschätzen konnten, dass ihnen persönlich nicht mehr drohen würde als die vorzeitige Pensionierung, passten die Abläufe in ihren Bezirken der Vernichtungspolitik an. Mit der Tötungsaktion gegen Kranke und Behinderte war ein "Präzedenzfall geschaffen worden, der den Kräften in der NS-Führung, die zu radikalen Maßnahmen gegen die Juden drängten, die Durchführbarkeit großer Mordaktionen demonstriert hatte". Hier wurde erstmals das Selektionskriterium "Jude" umgesetzt. Hier wurden jene räumlich-organisatorischen Abläufe erfunden, die kurze Zeit später die Vorgänge in den Vernichtungslagern der "Aktion Reinhard" strukturieren sollten. Und die Konferenz fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als die im Zusammenhang mit der NS-"Euthanasie" geschulten Mediziner begannen, Konzentrationslager zu bereisen, um kranke, versehrte, erschöpfte, kommunistische und jüdische Häftlinge für die Gaskammern der Tötungsanstalten zu selektieren. 1.2.Der Rhythmus des Verfahrens Obgleich die Konferenz, im Unterschied zu vielen NS-Verbrechen, eine abzählbare Menge von Teilnehmern hatte und leidlich dokumentiert ist, wurde sie nicht zur Herausforderung für die Nachkriegsjustiz. Lange ignoriert und im Grunde bereits vergessen, hat erst 1960 die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main unter der Leitung des remigrierten Fritz Bauer mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens der Konferenz eine neue Erscheinungsform gegeben. Ausgelöst von der Beschuldigung der Beihilfe zum Mord, sammelten sich, gefasst in 14 Bänden Hauptakten (sowie 20 Bänden Nebenakten und 13 Bänden Handakten), Protokolle, Vermerke und Berichte. Von den Beschuldigten wurden Einlassungen verfasst, die allemal der Form genügen, aber den Eindruck erwecken, sie füllten die Zeit, die vergehen musste, bis der Spuk ein Ende hatte. Was über den Leser niedergeht, hat den Charakter einer einzigen langen Beschwörung: Die Justiz war machtlos - mächtig war der Nationalsozialismus, waren Hitler und die Partei. Wie kann es angehen, dass eine deutsche Staatsanwaltschaft gegen die Spitze der deutschen Justiz ermittelt? Eine Anomalie der Rechtsgeschichte, eine unzulässige Schleife, Folge des antifaschistischen good will eines sozialdemokratischen Ministerpräsidenten im Land Hessen, der einen unverständigen Juden zum Generalstaatsanwalt machte. Die Schleife musste irgendwann zum Ausgangspunkt zurückfinden und neuerlich dem Schweigen Raum geben. Und so geschah es. Im Gegensatz zu dem im Begriff Aufarbeitung anklingenden Fortschreiten änderte sich in dieser Geschichte mehrfach die Bewegungsrichtung. Während der von den Alliierten betriebenen oder beförderten Strafverfolgung der Jahre 1945 bis 1948 wurde die Konferenz aktenkundig. Dem folgte die, fast möchte man sagen, obligatorische Phase des Vergessens und Beschweigens. Aber auch das 1960 eingeleitete Ermittlungsverfahren erlebte starke Gegenbewegungen. Immer wieder gab es Zeiträume, in denen gar nicht ermittelt wurde. Immer wieder blockierten beziehungsweise verzögerten Verfahrensbeteiligte den Fortgang. Implizit stand das Verhältnis von Justiz und Diktatur auf dem Prüfstand: Was darf man von im Rechtsstaat ausgebildeten Juristen nach ihrer Übernahme durch den totalitären Staat erwarten? Da die virulente Frage keine befriedigende Antwort erfuhr, mehr noch, weil die Lebenslüge, sich ohnmächtig gegen den Terror des Regimes gestemmt zu haben, zerging, wurde die Konferenz samt der in den Einlassungen und Aussagen aufscheinenden Haltung der höchsten Juristen ad acta gelegt: Die Konferenz, die Einlassungen, die Haltung - es sollte nie geschehen sein. Die lange ignorierte und nur kurzzeitig zum Skandalon gewordene Konferenz wurde einer Prozedur unterzogen, die man als Erzeugung einer Leerstelle bezeichnen könnte - eine eigenständige und unzureichend untersuchte Kulturleistung. In der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen 1970 und 1978 verlor sich die Geschichte des Verfahrens, so dass es des nachdrücklichen Einsatzes eines einzelnen Richters - Helmut Kramers - bedurfte, um das historische Faktum seiner schieren Existenz zu sichern. Als er sich einer Jahre zurückliegenden Vertretungssituation erinnerte und in Frankfurt am Main "nach der eventuellen Existenz eines solchen Strafverfahrens" fragte - ihm wurde seitens der Generalstaatsanwaltschaft zunächst jede Auskunft verweigert -, war die Konferenz vom April 1941 ebenso wie das Verfahren gegen ihre Teilnehmer in den 1960er Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Weder das historische Ereignis noch der institutionelle Abhub der Aufklärungsbemühungen war im kollektiven Gedächtnis verankert. Indem der Richter sich anschickte, die Geschichte zu bergen, wuchs ihr ein dritter Teil zu: Nun war es die Geschichte einer Konferenz, die Geschichte eines allzu spät in Gang gesetzten und vom Ableben der Beschuldigten gesäumten Langzeitverfahrens und die Geschichte des Verfahrensendes, das nicht öffentlich werden sollte, um gleichsam auf der Stelle vergessen zu werden. Aber damit war noch nicht Schluss: Es folgte die Zivilklage, die Kramer gegen den ...
Anfang der 1960er-Jahre leitete man gegen ehemalige Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte ein Ermittlungsverfahren ein, das im Kontext der von Fritz Bauer vorangetriebenen Strafverfolgung von NS-Tätern stand. Der Vorwurf lautete: Unterstützung der systematischen Ermordung von Kranken und Behinderten zur Zeit des Nationalsozialismus. Auf einer vom Justizminister einberufenen Konferenz im April 1941 waren die hohen Juristen aufgefordert worden, die Tat zu decken. Das 'Schlegelberger-Verfahren' - benannt nach dem einladenden Justizminister - dauerte zehn Jahre. Die historischen Ereignisse, das Verfahren selbst und die Anstrengungen, es vor dem Vergessen zu bewahren, bilden ein erinnerungspolitisches Ensemble, das verdeutlicht, wie umkämpft die NS-Aufarbeitung bis in die 1980er-Jahre hinein war.
Autorenporträt
Christoph Schneider arbeitet als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Frankfurt am Main.
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