Nehmt mich beim Wort

Lieferzeit: Nicht mehr lieferbar

19,90 

Von Buntschatten, Pandas und 50 Arten, die Strümpfe anzuziehen – Literaturwettbewerb zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, Mit CD

ISBN: 3570008088
ISBN 13: 9783570008089
Herausgeber: Karl H Haack
Verlag: Bertelsmann, C. Verlag
Umfang: 320 S.
Erscheinungsdatum: 18.09.2003
Format: 2.7 x 21.5 x 13.5
Gewicht: 464 g
Produktform: Kartoniert
Einband: KT

Nicht vorrätig

Artikelnummer: 699439 Kategorie:

Beschreibung

Nelly Christina Kuske (Preisträgerin) Nehmt mich beim Wort: REGEN. Nicht, dass es etwas Besonderes wäre. Nur sehe ich mein gestern Nacht endlich fertig gestelltes und mit grüner Tinte geschriebenes Manuskript draußen, neben dem Gartentisch, unter der triefnassen Hecke liegen. Zerfleddert, zerknickt und zermantscht. Mein Großvater. Meine Poesie. Die ganzen Schritte. Gedanken. Hunde. Irrtümer. Roter Mohn. Der Weg. Ohnmacht. Und Sophia. Zukunft. Gras, und ein ganzes Meer von aufgepeitschten Steinen. Fassungslos grün aufgelöst. In Wut und Aggression und Schuld? Verdammt. Durchs Gras gehen. Hin. Und reinfassen. Was für ein ungeheuerlicher Versuch. Das anzusehen. Ich habe Angst. Ich flenne, weil alles unwiederbringlich verloren ist. Leere zerknitterte, grünlich schimmernde Seiten. Hin und wieder ein Wort, das dazwischen steht, und andernorts ist auch das nicht mehr zu dechiffrieren. Ich hocke mitten drin. Dahinter klebt ein Bruchstück Text. In einem verschwommenen Absatz schwimmt die Geige meines Opas rum. Mein Gott. Und von allem anderen ist nichts mehr da. Und umgeblättert nur noch lesbar, dass er die Geige, ganz rund, Violina, wie meine Oma, nannte und. tanzte verrückt um sie herum. Jagte sie oder sie folgte dem Fiedler ins Haferstroh. Fritz Kaiser. Der Kaiser ist ein guter Mann, sang sie und später den Enkeln vor. Spuren von Regentropfen dazwischen. Und die wollten es immer wieder hören. Auch wie er gleich nach der Geburt unseren winzigen Papa nahm, ihn in einen Schuhkarton mit Schafwolle legte und ab ins warme Ofenrohr schob. Und er fiedelte davor, bis sein Sohn fertig gebacken war, herausgenommen wurde und von da an richtig lebte. Behutsam. Auf der Rückseite des durchgeweichten Blattes: Dem lieben Gott dankte er seit jener Zeit einmal im Jahr an Heiligabend und beglückwünschte ihn ganz ehrlich auch zu seinem Sohn. Doch als der Zigeuner das Gotteshaus nicht mehr betreten durfte, schoren sie ihm das schwarze, immer etwas zu lange Haar, das so dick gewesen war, dass Violina ihre feinen Strümpfe damit stopfen konnte. Das Wort »schoren« ist kahl. Das schwarze Haar grün aufgelöst, und in dem steht noch: Er war nichts lieber als Geigenspieler gewesen. In Dachau war es damals nicht anders. Er spielte, und viele folgten seiner Musik, adagio und accelerando, meinem Großvater, den man dort nicht mehr Zigeuner, sondern Rattenfänger nannte, wie es zuletzt im Dorf herum gemunkelt worden war. Der Regen duldet diesen Absatz, als hätte mein Großvater Bestand in seiner Zensur. Entscheidet das Wasser, was bleiben darf und was nicht? Ich komme mir ausgeliefert vor, mitsamt meinen nächsten Seiten, in denen ausgewaschene Erklärungen, Gründe und Rechtfertigungen stehen. Der Anspruch auf Menschenwürde ist grün gemacht, als sei er nicht farbecht gewesen. Ich wische mir über das Gesicht und ich beschreibe in diesem Augenblick nicht, was ich denke und fühle. Aus meinem Haar tropft es runter und macht den Mohn nass. Das Wort blüht krachrot im Tintenwasser, an der Landstraße, die im nächsten Absatz zur Gedenkstätte von Dachau führt. Mohn auf grünem Brachland. Rot. Wie das Herz aller Dinge. Ich bin angesteckt in diesem Fragment. Voller Schwindel und Poesie gewesen. Rot hatte sich gedreht und stand plötzlich wie von hinten nach vorn gelesen, anders herum, als Tor im Gras, im anders herum gelesenen Gras, im Sarg. Ich erinnere mich und hatte es damals so aufgeschrieben, unterwegs, auf dem Weg zum KZ. Es ist erhalten geblieben. Auch der Hund, der übermütig bellend ins Feld hetzte, mich raus, und hin zu dem lachenden Mann: Mein Hund scheucht doch nur Angsthasen auf. Mich. Und in den Seiten davor wurde das Leben meines Großvater diese Straße entlang von SS-Hunden bewacht und vom Regen ausgelöscht. Außer ein paar grünen Anhaltspunkten, wie Wortgerippen, ist auf dem Papier nichts mehr übrig geblieben von den Seiten zuvor. Die ganze Geschichte ist unbrauchbar gemacht. Meine Gedanken von heute. In ihren Zusammenhängen aufgehangen, in dem, was war

"An guten Tagen wünsche ich mir eine bunte Welt, in der die Menschen 50 Arten erfinden, die Strümpfe auszuziehen, 20 Arten, ins Oberhemd zu schlüpfen, zehn Wege, eine Krawatte zu binden und 100 Arten, ein T-Shirt zu verzieren, kurz, eine bunte, belebte Alltagswelt, in der jede Zwischenmahlzeit so spannend ist wie ein Krimi." So bringt Angela Stadthaus ihr alltägliches Leben zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf den Punkt. Ihr Textbeitrag ist eine von 35 kleinen Erzählungen, die alle von körperlicher Behinderung oder seelischer Krankheit handeln. Die vorliegende Textsammlung ist das Ergebnis eines Literaturwettbewerbs, den der C. Bertelsmann Verlag im Rahmen des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen in Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Karl Hermann Haack ermöglicht hat. Das Buch will die Lebenswirklichkeit und die Interessen behinderter Menschen mehr in die öffentliche Wahrnehmung rücken. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. "Nehmt mich beim Wort" ist eine beeindruckende literarische Reise durch die Höhen und Tiefen eines Lebens im Zeichen von körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung und hilft, die trennenden Grenzen zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen zu überwinden.

Autorenporträt

Karl Hermann Haack ist Bundesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen.

Das könnte Ihnen auch gefallen …