Der schweizerische Wohlfahrtsstaat

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Zum Ausbau des sozialen Sicherungssystems 1975-2005, Schriften des Zentrums für Sozialpolitik, Bremen 16

ISBN: 3593387557
ISBN 13: 9783593387550
Autor: Moser, Julia
Verlag: Campus Verlag
Umfang: 276 S.
Erscheinungsdatum: 15.09.2008
Auflage: 1/2008
Format: 2.2 x 21.6 x 14.3
Gewicht: 395 g
Produktform: Kartoniert
Einband: PB
Artikelnummer: 1033572 Kategorie:

Beschreibung

Eine Revision der freiwilligen Krankenversicherung stand spätestens seit Mitte der 1960er Jahre auf der politischen Tagesordnung der Schweiz, alle Reformversuche wurden aber entweder durch Konflikte zwischen Ärzten und Krankenkassen oder zwischen linken und bürgerlichen Parteien blockiert (Obinger u.a. 2005a: 267). Die Hauptgründe, warum eine Reform als absolut notwendig erachtet wurde, waren stetig steigende Gesundheitskosten, die Defizite einiger Krankenkassen sowie die Tatsache, "that solidarity in health insurance had been gradually on the wane" (Maarse/Paulus 2003: 603). Da die Krankenversicherungsprämien nach Eintrittsalter und Geschlecht differenziert wurden und Versicherungsgesellschaften Antragssteller auch abweisen konnten (Armingeon 2003: 175), waren so genannte schlechte Risiken in ihrer Mobilität behindert. Krankenkassen mit guter Risikostruktur waren in der Lage, ihre Prämien zu senken und dadurch weitere gute Risiken anzuziehen, wodurch es zu einer Herausbildung von Kassen mit mehrheitlich guten und solchen mit mehrheitlich schlechten Risiken kam ("adverse selection"). Der Anstieg der Gesundheitskosten vergrößerte das Gefälle zwischen den Krankenkassen, stiegen doch die Prämien von Kassen mit einer weniger guten Risikostruktur viel stärker an als diejenigen der anderen Kassen (Bundesrat 1991b: 103). Zugleich trugen auch die staatlichen Zuschüsse nicht zur Solidarität zwischen den Versicherten bei, da sie den Krankenkassen als solchen gewährt wurden und damit allen Versicherten zugute kamen (Maarse/Paulus 2003: 604). Obwohl der Reformbedarf in der schweizerischen Krankenversicherung also eher dringlich expansiv war, zog die in Folge der ersten Erdölkrise zunehmend prekäre Finanzlage des Bundes in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen massiven Rückbau nach sich (zu Einschnitten in der Rentenversicherung siehe 8.1). Waren die an die Krankenkassen geleisteten Bundessubventionen zwischen 1966 und Mitte der 1970er Jahre durch eine 1964 eingeführte automatische Anpassung der Bundesbeiträge an die Steigerung der Krankenpflegekosten von 170 auf 802 Millionen Franken angestiegen, reduzierte sie der Bundesrat in Reaktion auf das Budgetdefizit des Bundes ab 1975 sukzessive. Real wurden sie zwischen 1975 und 1983 um rund 50 Prozent gesenkt (APS 1983: 141). Ein erstes, umfassendes Finanzpaket wurde 1975 vom Parlament verabschiedet. Angesichts der Tatsache, dass sich der Bundesfinanzhaushalt zu diesem Zeitpunkt in der schwierigsten Lage seit dem Zweiten Weltkrieg befand, war es in einem Konklave des Bundesrates und ohne formelle Konsultation der zentralen Akteure des Gesundheitswesens entstanden (siehe auch Kriesi 1980: 613). Aus staatspolitischen Gründen unterstützten im Parlament auch die Sozialdemokraten das umfassende Maßnahmenpaket, das u.a. den Bundesrat zur zeitlich befristeten Kürzung seiner Beiträge an die Krankenkassen ermächtigte (ebd.: 651; zur Rentenversicherung siehe 8.1). Auf Grundlage der ihr im Rahmen dieser Vorlage erteilten Kompetenzen reduzierte die Regierung die Bundeszuschüsse für die Jahre 1975 und 1976 um 10, für 1977 um 11,5 Prozent. Um die Kürzungen für die Krankenkassen etwas zu kompensieren, erhöhte sie gegen den Widerstand der Sozialdemokraten und Gewerkschaften auf dem Verordnungsweg die Selbstbeteiligung der Versicherten, indem sie die Franchise (also den Betrag, den die Versicherten bezahlen müssen, bevor die Verpflichtung der Krankenkassen einsetzt) von 20 auf 30 Franken anhob (APS 1975: 135; Sommer 1978: 534). Bereits 1977 nahm das Parlament nahezu oppositionslos ein weiteres Maßnahmenpaket zum Ausgleich des Bundeshaushaltes an, das u.a. die Bundessubventionen an die Krankenkassen ungefähr auf dem Stand von 1976 und damit bei rund 880 Millionen Franken einfror. Auch eine Mehrheit der Sozialdemokraten hatte der gesamten "volkswirtschaftlich fragwürdigen, politisch bitteren, psychologisch unvermeidlichen" Vorlage zugestimmt (APS 1977: 83). Mit der Annahme des Maßnahmenpakets sanktionierte das Parlament auch die Prioritätensetzung der Regierung, die den Beitrag der Sozialversicherungen zur Stabilisierung des Bundeshaushalts überwiegend der Krankenversicherung aufbürden, dafür aber schrittweise die ebenfalls 1975 gesenkten Beiträge des Bundes an die staatliche Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) wieder anheben wollte (siehe Bundesversammlung 1976/77: 26; siehe auch 8.1). Insbesondere aufgrund der Einschnitte im Bereich der Krankenversicherung lancierten diesmal aber die kleinen Parteien der äußersten Linken ein fakultatives Referendum. Die Sozialdemokraten hatten der Vorlage im Parlament zwar noch zugestimmt, sprachen sich vor der Volksabstimmung aber überraschend für eine Ablehnung aus. Hintergrund dieses Stimmungswandels war das Scheitern eines parallelen Finanzpakets zur Erhöhung der Bundeseinnahmen in der Volksabstimmung, sowie die mangelnde Konzessionsbereitschaft der bürgerlichen Koalitionspartner bei der Entwicklung eines Nachfolgepakets. In der Volksabstimmung vom 4. Dezember 1977 konnten sich aber die bürgerlichen Befürworter mit ihrem Sparappell durchsetzen (VOX 1977: 5). Ein letztes Sparpaket folgte im Jahr 1980. Diese Mal drohten die Sozialdemokraten ganz offen mit einem Referendum gegen die als zu exzessiv bewerteten Kürzungen. Es waren dann aber vor allem die ebenfalls ein Referendum erwägenden Krankenkassen, die den Bundesrat dazu bewogen, die Bundeszuschüsse an die Krankenkassen nur um 5 statt wie zunächst geplant um 10 Prozent zu kürzen. Diese Entscheidung wurde vom Parlament sanktioniert. Ein Referendum wurde zwar lanciert, allerdings gelang es dem linken "Comité pour l'unité ouvrière" aus dem Kanton Genf nicht, die benötigten Unterschriften zu sammeln. Da viele kantonale Gesetze die Kantonsbeiträge an die Bundessubventionen koppelten, entstanden den Krankenkassen ab Mitte der 1970er Jahre bedeutsame Mindereinnahmen (APS 1989: 208). Weil die Krankenpflegekosten aber zeitgleich weiter anstiegen, gaben die Kassen diese in Gestalt deutlich höherer Prämien an die Versicherten weiter und verstärkten ihre Jagd nach guten Risiken (ebd.). Die schweizerische Krankenversicherung war also in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nicht Gegenstand umfassender Reformen, durch die wiederholte Senkung der Bundeszuschüsse und die einmalige Anhebung der Selbstbeteiligung kam es aber dennoch zu deutlichen Kürzungen. Gleichwohl befand sich eine Gesetzesrevision in Vorbereitung, die auch expansive Maßnahmen vorsah (siehe 6.2).

Die Schweiz hat ihre wohlfahrtsstaatliche Sicherung auch nach 1975 ausgebaut, zu einer Zeit, als viele Länder bereits drastische Kürzungen vornahmen. Wie kam es zu diesem Ausbau gegen den Trend? Julia Moser erläutert, welche Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Familienstruktur diesen Ausbau nötig machten. Sie spricht von einem notwendigen sozialpolitischen Aufholprozess, da das alte System den Anforderungen der postindustriellen Gesellschaft einfach nicht mehr gewachsen war.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt Vorwort Einleitung 1.1 Problembeschreibung und Forschungsfragen 1.2 Methodisches Vorgehen 2 Theoretischer Rahmen und Hypothesen 2.1 Funktionalismus und "Neo-Funktionalismus" 2.2 Interessen- und konflikttheoretische Ansätze 2.3 Institutionalismus 2.4 Synthese: Potentielle Erklärungen eines Ausbaus des schweizerischen Wohlfahrtsstaates nach 1975 3 Das politische System der Schweiz 3.1 Allgemeine Merkmale 3.2 Der Bundesrat 3.3 Die vorparlamentarische Phase der Entscheidungsfindung 3.4 Föderalismus 3.5 Die direkte Demokratie 4 Der schweizerische Wohlfahrtsstaat zu Beginn des "Silbernen Zeitalters" 4.1 Die Entstehung des schweizerischen Wohlfahrtsstaates 4.2 Der schweizerische Wohlfahrtsstaat zu Beginn des "Silbernen Zeitalters" 5 Arbeitslosenversicherungsreformen (1975-2005) 5.1 Die zweite Hälfte der 1970er Jahre oder "in der Gefahr ist der Schweizer am willigsten, etwas zu tun" 5.2 Die 1980er Jahre: erste Mängel beheben 5.3 Die 1990er Jahre: "Unser Land ist keine Insel der Vollbeschäftigung mehr" 5.4 Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends: es wird weiter gekürzt 5.5 Der doppelte Nachzügler Schweiz: Die Entwicklung der Arbeitslosenversicherung im "Silbernen Zeitalter" 6 Krankenversicherungsreformen (1975-2005) 6.1 Die zweite Hälfte der 1970er Jahre: es wird gespart 6.2 Die 1980er Jahre oder "besser mit geflickten als ohne Hosen dastehen"? 6.3 Die 1990er Jahre 6.4 Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends 6.5 "Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Leistungen unseres hochstehenden Gesundheitswesens für jeden Bürger und jede Bürgerin zu sozialverträglichen Bedingungen verfügbar sind" 7 Familienpolitik (1975-2005) 7.1 Die zweite Hälfte der 1970er und die 1980er Jahre: Familienpolitik als Randthema 7.2 Die 1990er Jahre: Mutterschaftsversicherung, die dritte 7.3 Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends: "Und sie bewegt sich doch...." 7.4 Familienpolitik: vom Rand- zum Modethema 8 Rentenreformen (1975-2005) 8.1 Die zweite Hälfte der 1970er Jahre: "Wir haben uns damit abzufinden, dass die wirtschaftliche Lage einen ''Marschhalt'' im Ausbau des Sozialstaates gebietet" 8.2 Die 1980er Jahre 8.3 Die 1990er Jahre 8.4 Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends 8.5 Die Rentenversicherung im "Silbernen Zeitalter" - Unverzichtbar für die Identität der "Willensnation" Schweiz? 9 Gegen den Strom 9.1 Der Ausbau des schweizerischen Wohlfahrtsstaates in schwierigen Zeiten 9.2 Von sozioökonomischen Antriebskräften und politisch-institutionellen Weichenstellern 9.3 Fazit und Ausblick: Die Schweiz, ein schöner Ort zum Sterben? Anhang Tabellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Literatur

Autorenporträt

Julia Moser, Dr. rer. pol., ist wiss. Mitarbeiterin am SFB 597 »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen.

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