Beschreibung
E M I L N O L D E S P R A C H E N D E R P O R T R Ä T S Tilman Osterwold B L I C K - K O N TA K T E Der Blickkontakt ist ein einfacher, individueller, komplexer Vorgang im Lebensumfeld des Menschen; wenige bleiben unvergesslich und haben eine Perspektive. Bilder konservieren den Blick auf Menschen. Fotoporträts sind ein massenkulturelles Phänomen in der Wahrnehmung zwischenmenschlicher Kontakte, eine zeitgenössische Volkskunst, die gerne mit dem schönen Schein kokettiert; Profikünstler blenden die Eitelkeit und manipulieren mit idealisierenden Attitüden auf mehr oder weniger qualitätvolle Weise. Das Porträt ist ein kunstgeschichtlich tragfähiges Sujet. Seit mehreren tausend Jahren entwickeln sich vielschichtige Traditionen der Verbildlichung stilistisch immer wieder verändert, erneuert, erweitert. Künstlerische Orientierungen zeigen sich innerhalb der Epochen innovativ und konservativ. Emil Noldes Porträts der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts machen dieses Problem ablesbar: Sie treiben die Individualisierung dieses traditionellen Sujets ins Extrem. Noldes unorthodoxe Sicht- und Malweise bricht die Konventionen des Porträts auf; aber so, dass sie als kulturgeschichtliche Substanz in seinen Bildnissen noch durchscheinen, als Relikt sanktionierter Erfahrung, Erziehung, Schulung. Ein gewisser Grad von Solidität und Normalität bleibt spürbar auch dann, wenn kunstgeschichtliche Vereinbarungen und etablierte Konzepte in Noldes Bildern wie vergessen zu sein scheinen. Nolde thematisiert den zwischenmenschlichen Blickkontakt, das Interesse an dem Gegenüber beruht auf Gegenseitigkeit. Oftmals scheinen die porträtierten Personen ihrerseits den Porträtisten, den Künstler-Menschen Emil Nolde zu beobachten, über ihn nachzudenken und dabei abwartende, neugierige, auch skeptische Haltungen auszudrücken, die sich auf den Malvorgang, auf nähere Umstände der Entstehung der Bilder oder auf psychologische Konfrontationen in der Kontaktaufnahme der Menschen beziehen. Noldes Bildnisse zeugen von einem Dialog, einem Zwiegespräch, dessen Rollenspiel aus unterschiedlichen Positionen gesehen ist. Er zeigt die Menschen seltsam ein Wort, das Nolde gerne anklingen lässt. Schweigen, Ernst, Melancholie drücken sich in fragenden Haltungen aus. Was wurde innerhalb des Entstehungsprozesses der Bilder kommuniziert? Macht die Malerei ersichtlich, ob eine Sitzung tatsächlich stattgefunden hat oder ob nach Fotos, Skizzen oder aus der Erinnerung gearbeitet wurde? Dokumente könnten das teilweise belegen, aber was sagen die Porträts
Emil Nolde (1867a"1956) zählt zu den bedeutendsten Malern des Expressionismus. Porträts sind im Gesamtwerk des Künstlers ein herausragendes Genre a" insbesondere in seiner frühen Schaffensphase. In dieser Zeit durchlebt Nolde einen Prozess der Reifung, seine Malerei entfaltet eine innovative Kraft, die bis spät in das 20. Jahrhundert hinein künstlerische Entwicklungen inspiriert. Rund 50 der einzigartigen Bildnisse Emil Noldes, die in den Jahren 1903 bis 1918 entstanden sind, zeigt und beschreibt diese Sonderausgabe. Zu den vorgestellten Gemälden gehören die meisterhaften Selbstporträts von 1917, das berühmte Doppelbildnis Bruder und Schwester von 1918 sowie die porträthaften Darstellungen von Menschen, denen Nolde 1913/14 während seiner Reise nach Neuguinea begegnete. Das Porträt ist die Gattung, in der die Eigenständigkeit und Unmittelbarkeit der Malerei Emil Noldes auf besonders intensive Weise anschaulich wird. Ausstellungen: Ulmer Museum 2.4.-15.8.2005 · De Zonnehof - centrum voor moderne kunst, Amersfoort 18.9.2005-8.1.2006