Beschreibung
In einer burgerlichen Moderne, zu deren konstitutiven Selbstbeschreibungen die Ermächtigung des Subjekts gehört, muss die Wiederkehr christlicher Erlösungsfiguren irritieren. Das trifft insbesondere auf die Märtyrer zu, deren Lebenszweck sich eben nicht in einer sukzessiven Entfaltung der eigenen Möglichkeiten, sondern in Leid und Tod erfullt. Obwohl Märtyrer und Heiligenlegenden den ethischen und ästhetischen Normen der burgerlichen Gesellschaft (scheinbar) widerstreben, uben die als vormodern stilisierten Figuren der Einfalt eine ungeheure Faszination aus und kehren nach einer langen Phase der Latenz in die Literatur zuruck. Nicolas Detering fragt nach den Grunden fur diese unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte und spurt ihren konflikthaften Folgen im 19. Jahrhundert nach. Er berichtet von den anfänglichen Rekonstruktionen der Märtyrerlegende in der Romantik (etwa bei Tieck, Herder, Chateaubriand und E.T.A. Hoffmann), von ihrer reibungsvollen Annäherung an die Kultur der Burgerlichkeit (Keller, Nicholas Wiseman, C. F. Meyer und Agnes Gunther) und von dem Provokationspotential, das den Heiligen bis zuletzt innewohnt (so bei Sacher- Masoch, Thomas Mann und Kafka). Im Rahmen des Legendarischen floriert die literarische Imagination der Spätantike und speist pessimistische Diagnosen der eigenen Epoche, polarisieren sich die Konfessionskämpfe der Zeit, konturieren sich Genderstereotype und etabliert sich eine Ästhetik sexueller Devianz mit Folgen bis weit in die Gegenwart.
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