Beschreibung
I. Einleitung 1 Thema und Fragestellung Die Feststellung, dass das Lokale im Zuge der Globalisierung, inmitten der wir uns befinden, seine Bedeutung nicht verloren hat, ist nur ein scheinbares Paradoxon. In einer Welt ohne Grenzen mit ihren medialen Kommunikationsmöglichkeiten, zeitlichen Relativierungen, räumlichen Entgrenzungen und deren kontinuierlichen Überbietungen macht sich nämlich auch das Lokale wieder bemerkbar. Dies zeigt sich einerseits in der Suche und Aufrechterhaltung örtlicher, regionaler Spezifika zum Beispiel im Rahmen der Europäischen Union, aber auch in rezenten Problemen der Globalisierung, in hegemonialen Herrschaftspolitiken oder im internationalen Terrorismus. Nicht allein deswegen ist es zu begrüßen, dass sich auch die Kulturwissenschaften des Raumthemas seit einigen Jahren verstärkt zuwenden, sondern auch, weil Räumlichkeit eine wesentliche Dimension von Kultur ist. Auch wenn sich die deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter insbesondere die Historikerinnen und Historiker, aufgrund des Erbes der nationalsozialistischen Geopolitik mit Raumkonzepten lange Zeit schwertaten, so zeigt schon der Blick in die Wörterbücher verschiedener indogermanischer Sprachen, dass die Raumbegrifflichkeiten nicht einfach zu übersetzen sind, weil sie semantisch teils unterschiedlich besetzt sind. Mit der vorliegenden Studie zu den Räumen einer frühneuzeitlichen Stadt habe ich mich in mehrfacher Hinsicht auf fremdes, noch weitgehend brachliegendes Land begeben: Zunächst begab ich mich als deutsche Historikerin in eine fremde Stadt wie in ein fremdes Land mit einer eigenen Wissenschaftskultur. Dort habe ich im Archiv wie im dazugehörigen Archivalltag Räume erforscht (verschiedene Stadtviertel, Wirtshäuser, Cafés und Herbergen zum Beispiel), die teilweise schon erforscht waren, weil sich die französische Geschichtswissenschaft im Rahmen von Forschungen zur Soziabilität sowie zur Kulturgeschichte des Essens und Trinkens längst auch den Orten angenommen hat, an denen Menschen zusammenkamen, gemeinsam aßen und tranken. Doch hat sich der erste Eindruck recht schnell bestätigt, dass nämlich bei dem relativ unbefangenen Umgang mit dem Raumbegriff oft nicht nach den zeitgenössischen Vorstellungen von Raum gefragt wurde oder dass den Untersuchungen von einem impliziten, aber unausgesprochenen Konzept über einen geographischen oder auch sozialgeographischen Raumbegriff bis zu einem vagen Begriff von Erfahrungs- oder Begegnungsraum alles andere vorlag als ein einheitlicher wissenschaftlicher Umgang mit dem Raum. Dies waren die heterogenen Grundlagen einer deutsch-französischen Begegnung. Zu den wesentlichen Entwicklungen, die die europäische Frühe Neu-zeit, auf einen langen Zeitraum hin gesehen, prägten, gehörte neben einem allgemeinen Bevölkerungsanstieg, der frühmodernen Staatsbildung, der Pluralisierung des Denkens - die Konsequenzen für das Weltbild, die religiösen Systeme und die Glaubenspraktiken hatte - auch die Urbanisie-rung. Erstaunlicherweise wird diesem Aspekt in den meisten deutschspra-chigen Überblicksdarstellungen oder Epochencharakterisierungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Begriff der Urbanisierung ist vieldeutig. In der Mediävistik wurde darunter lange Zeit der Prozess der Städtegründungen und Städtebildung verstanden. In den Forschungen des letzten Vierteljahrhunderts zur (Frühen) Neuzeit spielen auch qualitative Aspekte eine Rolle: die Herausbildung eines vornehmlich städtischen Bürgertums, verbunden mit einem bestimmten Lebensstil. Andere Studien betonen weiterhin die quantitativen Aspekte: Unter Urbanisierung wird der Prozess des historischen Städtewachstums oder der (interurbanen) Netzwerkbildung, die Migration der Landbewohner in die Städte und die Entstehung von Metropolen verstanden. Schließlich tangiert Urbanisierung auch die Geschichte der Formen, also die Geschichte des Städtebaus und der Stadtplanung. Hinzu kommt die Beobachtung, dass sich urbane Denk- und Verhaltensweisen oder Lebensstile auf die Gesamtgesellschaft übertragen können, also nicht auf das Leben in der Stadt beschränkt sind. Urbanität - ein Begriff, der zunächst für die besondere Art des Denkens und Handelns in der Stadt stand - kann es mithin auch auf dem Land geben. Alle diese Aspekte spielen auch in der folgenden Untersuchung eine Rolle. Doch der Prozess der Urbanisierung soll hier zugleich von einer räumlichen und von einer Handlungsperspektive aus betrachtet werden. Deshalb wird mit dem Begriff Urbanisierung - auch auf die Gefahr einer fragwürdigen Abstraktheit hin - zunächst die Kultur der Räume einer Stadt im Sinn ihrer Konstitution, Wahrnehmung, Nutzung, Wirkung und Veränderung verstanden. Damit wird der Prozess der Urbanisierung nicht nur morphologisch oder demographisch beschrieben, sondern auch aus der Perspektive der Menschen und ihrer Handlungen. Die Geschichte der Stadt wird als Geschichte der Kulturen der Räume der Stadt geschrieben, wobei diese Kultur der Räume primär auf deren Gemachtheit und Deutung abhebt, aber auch auf die Praktiken in den Räumen und schließlich die Veränderung dieser Praktiken (wie auch der Räume). Umgekehrt soll auch das Handeln in seinen räumlichen Bezügen analysiert werden, weil menschliche Handlungen und soziale Beziehungen selbst in ihren utopischen Ausformungen nie frei von Orten sind, sondern immer auch durch räumliche Ordnungen - insofern es sich hier um soziale Konstruktionen handelt - eine Orientierung, einen "sozialen Sinn" erhalten. Eine Motivation zu der Studie war es auch, der Epoche mit einem an-deren Blick zu begegnen, als dies der Mainstream der - vor allem deut-schen - Frühneuzeitforschung der letzten Jahrzehnte getan hat. Ungeach-tet ihrer Konventionalität sind Periodisierungen - und damit die Zuschrei-bung von Strukturmerkmalen, Faktorenbündeln oder längerfristigen Pro-zessen - für die Durchdringung geschichtlicher Zusammenhänge und deren Vermittlung wichtig, jedoch können nicht alle gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der Frühen Neuzeit im Rahmen des "Fun-damentalvorgangs" der frühmodernen Staatsbildung interpretiert werden; auch die Konfessionalisierung als Prozess der Ausdifferenzierung ver-schiedener christlicher Bekenntnisse nach der Reformation spielte nicht in allen europäischen Ländern gleichermaßen eine Rolle; vor allem aber passen nicht alle gesellschaftlichen Veränderungen der Frühen Neuzeit in die modernisierungstheoretische Schablone. Jedenfalls kommt es auf die Betrachtungsebenen oder auf die Standpunkte an, und diese sollen die Räume einer Stadt sowie die sozialen Interaktionen sein, die diese Räume profilierten oder auch erst herstellten. Neben einer solchen, zunächst ein-mal sehr gegenstandsnahen Betrachtung bleiben die größeren raumzeit-lichen Veränderungen, die von einem distanzierten, erhöhten Standpunkt aus analysiert werden, weiterhin aufschlussreich.
Autorenporträt
Susanne Rau ist Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt.
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